Held*innen im Alltag

Wer Erec ist und was wir heute noch von ihm lernen können

Einige der wichtigsten mittelhochdeutschen Werke sind die Artusromane. Erzählungen, die sich mit den Rittern der Tafelrunde am Artushof, deren
Abenteuern und Bewährungsproben (âventiuren) und der „Minne“ beschäftigen. Einer dieser Ritter ist Erec, ein junger Prinz, der sich unbedingt beweisen möchte und im gleichnamigen Roman von Hartmann von Aue gegen Räuber, Riesen und Rüpel kämpfen muss. Natürlich darf dabei eine wunderschöne, edle juncvrouwe nicht fehlen, die Erec ebenfalls in so einige Schwierigkeiten bringt. Aber Erec stellt sich jeder Gefahr, lernt
aus seinen Fehlern, kämpft für seine Überzeugungen und erlangt deshalb Ruhm und Ehre. Seine größten Stärken sind sein Mut und seine
Großzügigkeit.

Doch was hat das alles mit uns zu tun? In einer Welt, in welcher der Artushof zum Uni Campus wird und die Ritter der Tafelrunde höchstens
noch eine angetrunkene Stammtisch-Runde im Café Faust darstellen; in einem Alltag, in dem die S-Bahn unser (vielleicht etwas ein- oder angerostetes) Streitross ist und in dem die ein oder andere Prüfung für viele wie eine Aventiure scheint; in einer Gesellschaft, in der die Feder mehr verletzen kann als ein Schwert und in der „Matches“ oft mehr zählen als „Minne“.

„Ich weiß ja nicht, was du unter Held*innen verstehst“, meinte meine Mama daraufhin. „Denkst du jetzt an Superheld*innen?“ – Nein, sicher nicht. Es braucht nicht immer die Rettung vor dem Bösen oder die Befreiung einer Prinzessin, um selbst ein*e Held*in zu sein. Es reicht aus, ein*e kleine*r Held*in zu sein, ein*e Alltags-Held*in – oder manchmal einfach nur ein guter Mensch. Es wäre Platz- und Zeitverschwendung, euch all die vielen Möglichkeiten aufzuzählen, in denen ihr Charakterstärke, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft beweisen könnt. Deshalb nur ein paar Situationen, die ich selbst erleben durfte und die ich gerne mit euch teilen möchte:

Vor einigen Jahren wurde ich an einem Informationsstand am Campus Stadtmitte angesprochen – nun ja, wer dort häufiger unterwegs ist, weiß, dass das regelmäßig passiert und regelmäßig auf die Nerven geht. Hingegangen bin ich eigentlich nur, weil an dem Stand Gummibärchen verteilt wurden – stehengeblieben bin ich, weil das Mentoring Programm „Kinder-Helden GmbH“ Schulkinder aus Stuttgart mit schwierigen Startbedingungen durch eine*n eigene*n Lernbegleiter*in aktiv unterstützen möchte – ehrenamtlich gearbeitet habe ich dort, weil ich selbst gesehen habe, wie mein Mentee (ein achtjähriger Junge aus Sri Lanka mit großen sprachlichen Schwierigkeiten) innerhalb unserer gemeinsamen zwei Jahre durch viel Unterstützung, Zeit und Geduld aufgeblüht ist. An unserem ersten gemeinsamen
Tag konnte er nicht ein einziges Wort flüssig lesen – nach zwei Jahren haben wir zusammen Buchreihen verschlungen und an einem Lesewettbewerb teilgenommen. Und alles, was ich dafür tun musste, war, ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit und
Selbstvertrauen zu schenken.

 

Natürlich nimmt ein Ehrenamt viel Zeit in Anspruch und nicht immer kann man sich im Studium diesen Zeitverlust leisten. Aber es sind auch die kleinen Dinge und Aufmerksamkeiten, die den Unterschied im Alltag machen: Als ich noch nebenher als Kassiererin in einem Drogeriemarkt gearbeitet habe, war es wohl die Lieblingsbeschäftigung vieler Kunden, all ihren Unmut und Ärger am Ausgang abzuladen – bei mir. Wer schon einmal an einer Kasse gesessen hat, kann bestimmt nachvollziehen, dass die monotone Arbeit zusammen mit solchen wunderbaren
Personen einem schon mal den Tag versauen kann – besonders wenn man von drängelnden Kund*innen mehr als Geldannahmestelle denn als Mensch wahrgenommen wird. An genau einem solchen Tag aber kam eine junge Kundin, die mich während des Einscannens intensiv anblickte. Nach einer Weile meinte sie zu mir etwas schüchtern: „Darf ich Ihnen sagen, dass ich Ihren Lidstrich unglaublich schön finde?“ – Ein kleines Kompliment und mein ganzer Tag war buchstäblich
gerettet und ich erinnere mich noch heute daran, wie mir eine so kleine Geste einer Alltags-Heldin in diesem Moment die Welt bedeutet hat. Solche kleinen Aufmerksamkeiten wie Komplimente oder die Bereitschaft, beim eigenen Gang zur Bibliothek das längst überfällige Buch eines*r verzweifelten Kommilitonen*in mitzunehmen, kosten weder Zeit noch Mühe und können für eine andere Person
dennoch Heldentaten sein.

 

Manchmal reicht es aber schon, eben einfach kein Idiot zu sein. Wer Freitagnachmittags mit dem Auto die Familie besuchen möchte, kennt
die kilometerlangen Staus rund um Stuttgart gut. Das Phänomen, dem viele Autofahrer*innen dabei anscheinend verfallen: Sie selbst sind natürlich die Einzigen, die gerne endlich ankommen würden und die es leid sind, bei 35 Grad im Stau
zu stehen. Weil das so ist, wird eben rechts überholt, gedrängelt, die Vorfahrt genommen, lauthals geflucht oder als fromme*r Bürger*in noch ein Ave-Maria gehupt. Dabei geht davon nichts schneller – außer vielleicht die eigene Herzfrequenz.
An solchen Tagen ist es bereits eine kleine Heldentat, Verkehrsregeln zu beachten, sich entspannt zurückzulehnen und die Musik zu genießen. Wann hat man schließlich sonst die Gelegenheit, lautstark an der eigenen gesanglichen Interpretation des Gitarrensolos von „Bohemian Rhapsody“ zu arbeiten?

 

Selbst wenn Artusromane wie der Erec bereits vor über 800 Jahren geschrieben wurden, können wir aus ihnen vielleicht mehr lernen als die richtige Verwendung des Mittelhochdeutschen: nämlich Gerechtigkeit, Großzügigkeit und Stärke. Und
das bedeutet nicht, sich abends großzügig einen starken Drink einzuschenken – zumindest nicht immer. Aber in dieser „Ellenbogen-Gesellschaft“ kommen in unseren Gedanken doch viel zu oft die Worte „ich“ und „heute“ vor, anstatt zu überlegen, wie wir anderen eine Freude machen können.
Vielleicht ernten wir im Gegensatz zu Erec weder Ruhm noch Ehre und erhalten für unsere Mühe (oder Zurückhaltung) manchmal keine Anerkennung, aber wer für jede gute Tat eine Gegenleistung erwartet oder sein Nutzenkalkül berechnet, verpasst die schönste Belohnung: das aufrichtige Lächeln einer anderen Person.

Sonngard Dieterle